Stühlokratie

Installation mit Märchen
(unter Verwendung des Textes von Hans Georg Lenzen)



Barbara Schirmer
Realisiert mit Dieter Tretow und Wolfgang Scholz
Barbara Schirmer
Da war mal ein Gemeinde-Sekretär, der ging jeden Morgen pünktlich um acht ins Rathaus und arbeitete da bis nachmittags um fünf, jahrein, jahraus, die Sonn- und Feiertage ausgenommen. Er war nicht gerade ein heller Kopf, aber er tat ohne Widerrede, was angeordnet war und meinte, das müßte doch eigentlich zum Beamten reichen. Aber da half nichts, daß er sich Jahr um Jahr in Geduld faßte – jedesmal, wenn die Regierung zu Neujahr die Beförderungen zum Beamten auf Lebenszeit bekanntgab, war er wieder nicht dabei. Zum Verzweifeln.
Eines Morgens sah er auf dem Weg zum Rathaus einen Stuhl auf der Straße stehen. Der Sekretär ging um den Stuhl herum, sah sich auch um, aber da war niemand, der etwas mit dem Stuhl zu tun hatte. Der Sekretär nahm also den Stuhl kurzerhand mit ins Rathaus und legte eine neue Akte an. Schließlich kann man nicht zulassen, daß Stühle einfach so herumstehen. Außerdem muß da, wo niemand anderes zuständig ist, die Behörde einspringen.
Der Sekretär schrieb auf, was er von dem Stuhl aufschreiben konnte – Höhe der Lehne, Höhe der Sitzfläche, Holzart und Farbe, Fundstelle und so weiter. „Hätten wir nur beizeiten an so was gedacht, sagte der Gemeinde-Sekretär zu seinem Amtsvorsteher, „dann hätten wir schon ein Verzeichnis von allen Stühlen in der Stadt, und es wäre ein Leichtes, dem Besitzer sein Eigentum wieder zuzustellen.“ Der Amtsvorsteher sah den Sekretär über den Brillenrand an. „Diese Sache wird um-ge-hend in Angriff genommen, Herr Kollege!“ sagte er. „Eine ausgezeichnete Idee. Ich werde dem Herrn Regierungspräsidenten mitteilen, daß diese Verbesserung des Verwaltungsapparates auf Ihre Anregung zurückgeht.“
Bald waren die Fragebögen entworfen, gedruckt und verteilt – so etwas geht bei einer Behörde immer am schnellsten. Die Bürger setzten ihre Brillen auf, um die neue „Anordnung zur behördlichen Erfassung der in Privatbesitz befindlichen Stühle“ zu studieren. Sie nahmen das Zentimetermaß zur Hand und liefen kreuz und quer durch ihre Wohnung, und manchen wurde zum ersten Mal klar, was in ihrem Haus alles an Möbeln herumstand. „Die alten Stühle auf dem Dachboden zum Beispiel“, sagten die Leute. „Was sollen wir da noch groß ausmessen und aufschreiben, das Zeug ist ja doch nicht mehr zu brauchen!“
So kam es, daß während der „behördlichen Stuhl-Erfassung“ auch immer mehr Stühle einfach auf die Straße gestellt wurden, weil sie keiner mehr haben wollte. Im Rathaus kamen inzwischen tausende von ausgefüllten Fragebögen an und wurden in Akten zusammengefaßt – eine ungeheure Arbeit. Die Registraturen reichten nicht aus, neue Aktengestelle mußen gebaut werden, und wohin mit den herrenlosen Stühlen? Immerhin, einige Schwierigkeiten wurden nach und nach bewältigt, das Rathaus erhielt einen modernen Anbau, das Personal der Behörde wurde verdreifacht, fürs erste. Das eigentliche Problem aber waren die Stühle, die bei Nacht und Nebel einfach auf die Straße gestellt wurden, weil ihre Besitzer keine Lust hatten, so viele Fragebögen auszufüllen.
Die Unterbringung aller dieser Fundstücke, ihre Erfassung in Listen und Katalogen zog sich über fünf Jahre hin. Aber darüber regte sich schon niemand mehr auf, denn inzwischen war der Amtsvorsteher in die Hauptstadt versetzt worden, der war da jetzt ein hohes Tier, im Möbel-Ministerium.
Und die Behörden sind gewachsen! Sie entwerfen immer neue Formulare und bauen neue Häuser für die vielen Akten, und wachsen und wachsen – da ist kein aufhören. Und wer’s nicht glauben will, der soll hingehen und sich’s ansehen.

Aus dem Buch
„Neues vom Rumpelstilzchen“, Hrsg. Hans-Joachim Gelberg, Verlag Beltz & Gelberg, 1981

Kurzmärchen, handelt von der richtigen Ordnung, die alles haben muß
von Hans Georg Lenzen
Zurück zur Stuhl-Uebersicht